Justin Fitzpatrick
Underworld
Ausstellung
13. Januar – 4. März 2018


Im modernen Bild des individuellen Körpers haben Sexualleben, Essen, Trinken und Defäkation ihre Bedeutung radikal verändert: Sie wurden auf die private und psychologische Ebene übertragen, wo ihre Konnotation eng und spezifisch wird, weggerissen von der direkten Beziehung zum Leben der Gesellschaft und des kosmischen Ganzen. In dieser neuen Konnotation können sie ihre früheren philosophischen Funktionen nicht mehr ausüben.
(Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt, 1965)

In "Rabelais und seine Welt" widmet sich Bachtin der Idee des "Grotesken”, einer kollektivistischen Idee des mittelalterlichen Lebens, nach welcher der Körper selbst der öffentlichen Sphäre angehörte und Gruppenschlemmereien, öffentliche Defäkation, Urinieren und das Sexualleben den offenen und porösen sozialen Körper charakterisierten. Er elaboriert die psychologischen Veränderungen, die sich ereigneten, als Menschen von den direkten Früchten ihrer Arbeit getrennt wurden, während ihre eigenen Erzeugnisse von den herrschenden Klassen zu überhöhten Preisen an sie zurückverkauft wurden. Die Kirche strukturierte den sozialen Körper um die Einheit der Familien und die Re-produktion neuer Körper herum. Diese Abstraktion wiederum schuf eine psychologische Abstraktion, wobei der Körper individualisiert, aus seiner sozialen Masse entfernt und privatisiert wurde. Auf diese Weise sollten die Exzesse des offen-porösen sozialen Körpers verschwinden oder kodifiziert werden und in Karnevals oder ähnliche Festtage verbannt werden. Das "Groteske" wird in dem Bild eines aufklaffenden offenen Mundes zusammengefasst: der Idee, die Welt durch Schlucken in den Körper zu konsumieren. Metaphern der körperlichen Vereinigung gehen aus den physischen Eigenschaften des Körpers und seiner Beziehung zur Welt hervor, wobei seine Körperlichkeit in dieser Ausstellung mit dessen ökonomischen Wert verglichen wird.

Die Ausstellung bietet uns drei Gemälde dar, die je einen Tisch, den Ort der Inkorporation oder Vereinigung, darstellen. Einer von ihnen zeigt einen Bauarbeiter, der als Teil eines anatomischen Diagramms gedacht wird, ein Filtersystem, das sich in nahezu text-ähnliche Formen zu verwandeln scheint. Zwei "Tisch”-Malereien zeigen je zwei Figuren in einem Café, die sich zu einem Jugendstil-ähnlichen Ornament verflechten und abstrahieren. Ornament ist, was für ein Objekt dekorativ oder nicht wesentlich ist. Hier bezieht sich Ornament auf Übermaß, auf untätiges Geschwätz, auf sexuelle Erregung. Auch die Skulpturen verweisen auf den Tisch und das Übermaß: Thomas Aquin – hier in Form von vier Jugendstil-Tischbeinen verkörpert, die an Kehrbürsten und Kehrschaufeln befestigt wurden – hat eine Taxonomie sexueller Sünden katalogisiert. Die Skulpturen sind allegorische Darstellungen von Sünden der Verschwendungssucht: Coitus Interruptus, Selbstliebe und Sodomie - verschütteter Samen muss aufgewischt werden.

Nicht-normative und nicht-produktive sexuelle Handlungen sündhaft zu kategorisieren ist nur eine der Arten, wie die Kirche versucht hat, Sexualität ausschließlich um die Produktion nachfolgender Generationen von Arbeitern zu strukturieren. Unsere Einstellungen zur Sexualität im Allgemeinen wurden folglich unter sozialen und ökonomischen Prinzipien geformt, die in unserem Körper als Scham und Schuld verinnerlicht wurden. Sexuelles Gefühl und Vergnügen wurden pathologisiert. In dieser Ausstellung schlägt Fitzpatrick vor, dass unsere Körper metonymische Modelle für unsere soziale Struktur sind und als diese Strukturen im Laufe der Zeit in Religion und staatlicher Kontrolle abstrahiert wurden, restrukturierten und entfremdeten sie uns selbst von unseren Körpern.

Justin Fitzpatrick, geboren in 1985 in Dublin, lebt und arbeitet in London und Brüssel. Zu jüngsten Einzelausstellungen zählen F-R-O-N-T-I-S-P-I-E-C-E (Seventeen, London) und Uranus (Sultana, Paris). Seine Arbeiten wurden u.a. in folgenden Gruppenausstellungen gezeigt: Whisky et Tabou, Musée Estrine, Saint-Rémy-de-Provence (2017); Amazing girls / It’s complicated, Kevin Space, Wien, (2017); Streams of Warm Impermanence, DRAF, London (2016); Animal Mundi, Barbican Arts Trust, London (2016); Life is On, Jakob Kroon Galerie, Stockholm (2016); Caput Medusae, Westminster Waste, London (2016); I would have done everything for you…Gimme more!, London (2016); Bloomberg New Contemporaries, ICA, London (2015).

Justin Fitzpatrick, Sodomy, Kevin Space 2018, Foto: Maximilian Anelli-Monti
Justin Fitzpatrick, Sodomy, Kevin Space 2018, Foto: Maximilian Anelli-Monti
Justin Fitzpatrick, Sodomy, Kevin Space 2018, Foto: Maximilian Anelli-Monti
Justin Fitzpatrick, Self Love, Kevin Space 2018, Foto: Maximilian Anelli-Monti
Justin Fitzpatrick, Underworld, Ausstellungsansicht, Kevin Space 2018, Foto: Maximilian Anelli-Monti
Justin Fitzpatrick, Artist proof; Kindney failure, Kevin Space 2018, Foto: Maximilian Anelli-Monti
Justin Fitzpatrick, Underworld, Ausstellungsansicht, Kevin Space 2018, Foto: Maximilian Anelli-Monti
Justin Fitzpatrick, Coitus Interruptus, Kevin Space 2018, Foto: Maximilian Anelli-Monti
Justin Fitzpatrick, Underworld, Ausstellungsansicht, Kevin Space 2018, Foto: Maximilian Anelli-Monti
Justin Fitzpatrick, Underworld, Kevin Space 2018, Foto: Maximilian Anelli-Monti
Justin Fitzpatrick, Coitus Cafe, Kevin Space 2018, Foto: Maximilian Anelli-Monti
Justin Fitzpatrick, Underworld, Ausstellungsansicht, Kevin Space 2018, Foto: Maximilian Anelli-Monti
Justin Fitzpatrick, Underworld, Ausstellungsansicht, Kevin Space 2018, Foto: Maximilian Anelli-Monti