Diese Einzelausstellung von Lydia Ourahmane bringt neue und ältere Arbeiten der Künstlerin zusammen, die sich alle in einem ständigen Prozess der Veränderung und Überarbeitung befinden. Im Zentrum ihrer Praxis stehen Akte des displacements –Verschiebungen wie auch Verdrängung– , die Vergegenwärtigung des Abwesenden und nicht-lineare Geschichtsschreibung. Ourahmanes Installation bei Kevin Space navigiert die Möglichkeit, die individuelle und ortsgebundene Erinnerungen in kollektive und räumliche Erfahrungen aufzulösen.
Das englische Wort "displacement" umfasst sowohl die Bewegung von Materialien als auch von Menschen, die Ourahmanes Werken innewohnen, und in denen letzteres oft durch ersteres symbolisiert und in Erfahrung gebracht wird. Im Deutschen kann man beispielsweise zwischen "Vertreibung", die ein Individuum oder eine bestimmte Gruppe von Menschen durch politische oder ökonomische Maßnahmen zur Flucht zwingt, und "Verschiebung", welche die Bewegung von Materialien, einer Idee oder eines Objekts von einem Ort und einer Lesart zur anderen meint, unterscheiden. Es ist gleichbedeutend mit einer Verlagerung der Perspektive oder des Kontextes.
Die unentschiedene Anwesenheit von fast 400 kg fruchtbarer, roter Erde, die aus Medea, Algerien, geschmuggelt wurde, wird betreten, verbreitet und eingeatmet. Das Material agiert als Zeuge von Geschichte(n), von denen der gegenwärtige Zustand der Erde durchtränkt ist ohne deren physikalischen Eigenschaften zu verändern. Diese körperliche Konfrontation beginnt bereits mit Betreten des Raumes. Silberne Türgriffe, die schwarz mit Schwefel behandelt wurden, fallen durch Berührung stetig wieder in ihre ursprüngliche Farbe zurück und zeichnen so jeden anwesenden Körper auf.
Eine Mappe mit Dokumenten zeigt Papiere, die sich auf Ourahmanes Großvater und Vater beziehen. Beide wurden während der Kolonialherrschaft geboren. Per Gesetz haben Menschen der Postkolonie immer noch Anspruch auf die französische Staatsangehörigkeit, da Algerien als eine Erweiterung Frankreichs angesehen wurde.
Solche juristische, bürokratische Verfahren sind für die meisten Algerier/innen jedoch ein Akt der Unmöglichkeit, da die Staatsbürgerschaft auf französischem Boden beantragt werden muss. Die Unerreichbarkeit wird in eine Perversion verwandelt. Ourahmane hält das laufende Prozess- und Rechtsmodell, um ihre eigene französische Staatsangehörigkeit durch das Recht auf Blut zu beanspruchen, fest und konfrontiert die Staatsbürgerschaft mit der Quantifizierung von Dokumenten und Gremien.
Lydia Ourahmane (geb. 1992, Saϊda, Algerien) lebt und arbeitet in London und Oran. Zu jüngsten Einzelausstellungen zählen Manifesta 12: Gardens of Coexistence, Palermo, Droit du Sang, Schaufenster im Hofgarten, Kunstverein München, The you in us, Chisenhale Gallery, London (Einzelausstellung), 2018 New Museum Triennial: Songs for Sabotage, The New Museum of Contemporary Art, New York; a good neighbour, 15. Istanbul Biennale (2017); Social Calligraphies, Zachęta National Gallery of Art, Warschau (2016); und Bloomberg New Contemporaries, Institute of Contemporary Arts, London (2014).
Werkliste
p.H. 8.7.
356 kg fruchtbare Erde, aus Medea, Algerien geschmuggelt
Dimensionen variabel
2015/2018
Medea liegt 83 km südlich von Algeriens Hauptstadt Algier. Bis 1962 war Medea eine Garnisonsstadt für die französische Armee. Auf dem Höhepunkt des Bürgerkrieges und des Terrorismus der Neunziger Jahre war Medea eine der Städte, in der einige der schlimmsten Massaker durch extremistische Rebellengruppen im sogenannten “Todesdreieck” zwischen Medea, Chlef und Blida verübt wurden. Heute ist es eines der landwirtschaftlich reichsten und fruchtbarsten Gebiete Algeriens.
Droit du Sang (Blood Right)
Antrag auf französische Staatsbürgerschaft
2018 –– heute
Per Gesetz sind algerische Staatsbürger/innen, die vor der Unabhängigkeit Algeriens geboren wurden, berechtigt, einen französischen Pass zu erhalten, da die ehemalige Kolonie als eine Erweiterung des französischen Imperiums galt. Dieser Prozess ist in Wirklichkeit allerdings unerreichbar da er ausschließlich von französischem Boden aus beansprucht werden kann, was bloß durch illegale Flucht nach Frankreich möglich wäre.
Die Arbeit dient als Modell und konfrontiert Staatsbürgerschaft und Identität durch bürokratische Verfahren miteinander. Das Projekt dokumentiert den Prozess der Inanspruchnahme der französischen Staatsbürgerschaft durch das Geburtsrecht da der Großvater und Vater der Künstlerin vor der algerischen Unabhängigkeit geboren wurden. Im Verlauf der Ausstellung werden sich offizielle Papiere ansammeln, während die Künstlerin sich durch die für den Erhalt eines französischen Passes erforderlichen Systeme bewegt.
Tayeb Ourahmane Pass (Vorderseite)
Tayeb Ourahmane Pass (Seite 1-3)
Tayeb Ourahmane Pass (Seite 4-7)
Tayeb Ourahmane Pass (Rückseite)
Heiratsurkunde
Fatima Ourahmane (geboren Hassani) Geburtsurkunde französisch
Fatima Ourahmane (geboren Hassani) Geburtsurkunde arabisch
Originale Geburtsurkunde des Vaters
Authentifizierung der originalen Geburtsurkunde des Vaters – beglaubigt am 17.08.2016
Email Jean-Paul Mopo Kobanda 10.55 Mon docier
Email eines Anwalts in Paris
Lydia Ourahmane Geburtsurkunde – bestätigt am 27.11.2013
Lydia Ourahmane Geburtsurkunde (Arabisch)
Antragstellung auf französische Staatsbürgerschaft
Antragstellung auf französische Staatsbürgerschaft
Antragstellung auf französische Staatsbürgerschaft
Tayeb Ourahmane Militärpass (innen)
Tayeb Ourahmane Militärpass (außen)
Door handles
Silberne Türgriffe, mit Schwefel geschwärzt
2018