Ioana Nemeș
All the Future Ahead
Ausstellung
30. Mai – 13. Juli 2024


Kevin Space freut sich, mit All the Future Ahead die erste Einzelausstellung der rumänischen Konzeptkünstlerin Ioana Nemeș (1979—2011) in Österreich zu präsentieren. Die Ausstellung entfaltet sich um Monthly Evaluations (2005—2010), ein elaboriertes Werkensemble eines diagrammartigen Systems von (Selbst-)Auswertungen.

Angetrieben von dem Bedürfnis, „die nicht greifbaren Dinge wie das Leben oder die Zeit aufzuzeichnen, zu sezieren, zu verstehen und zu beschreiben", entwickelte Nemeș eine Methodik täglicher Auswertungen, die auf einer Reihe spezifischer Parameter basiert: „physisch“ (abgekürzt mit P), „emotional“ (E), „intellektuell“ (I), „finanziell“ (F) und „Glück“ (L für „luck“). Diese Faktoren wurden auf einer numerischen Skala von -10 bis +10 eingestuft, wobei jeder Tag eine andere Bewertung erhielt und mit einem Plus-, Minus- oder Gleichheitszeichen markiert wurde. Die Künstlerin kombinierte diese täglichen mathematischen Gleichungen mit tagebuchartigen Textfragmenten, die spekulative und skeptische, poetische und kulturkritische, persönliche und makro-narrative Elemente und Perspektiven miteinander verbanden. Nemeș’ Stil war wesentlich von der „stream-of-consciousness“-Methode beeinflusst, die mit Virginia Woolf assoziiert wird. Jedem einzelnen Tag wurde schließlich in einem Akt gezielter Synästhesie ein eigener Farbton zugeordnet. Diese „chromatischen Landkarten“, wie die Künstlerin sie nannte, waren durch den Lüscher-Farbtest inspiriert, der 1947 von dem Schweizer Psychotherapeuten Max Lüscher entwickelt wurde. Sein projektiver psychologischer Test unternahm den Versuch, eine objektive Messung subjektiver Zustände zu ermöglichen, und in ähnlicher Weise erlaubten Nemeș’ Farbnuancen ihr, ein expressives und affektives Vokabular zu entwickeln, das über sprachliche Konventionen hinausging. 

Nemeș’ eingehender Untersuchung von Zeit in Monthly Evaluations ging eine signifikante Recherchephase voraus, deren Beginn auf das Jahr 2003 zurückzuführen ist, als die Künstlerin einige Monate als Artist-in-Residence in Wien verbrachte. In einer nicht-chronologischen Komposition wird eine Auswahl von „Tagen“ aus der Serie zusammen mit frühen Evaluationen aus ihrer Zeit in Wien präsentiert, die erst kürzlich nach einer weiteren Durchsicht aus ihren Notizbüchern entnommen wurden und die ihre Begegnungen mit der Stadt nachzeichnen. Diese frühen (Proto-)Evaluationen folgen jedoch (noch) nicht jenen Parametern, die Nemeș später für die Serie entwickeln sollte, sondern wurden vielmehr einer Bewertung durch einfache Angaben wie einem Plus-, Minus- oder Gleichheitszeichen unterzogen. 

Während die Werkgruppe in der Vergangenheit unterschiedliche materielle und räumliche Manifestationen angenommen hat (darunter gerahmte Drucke, Epoxid-Skulpturen, Pappwürfel oder sogar Schutzumschläge von Büchern), wird die Auswahl der Monthly Evaluations in der Ausstellung vorwiegend in ephemeren Medien wie Wandmalereien und Fensterplots (wie etwa die Werkserie “The Lost Days” – Perioden, die Nemeș nicht auswertete oder nicht auswerten konnte, aber dennoch registriert blieben) präsentiert, und unterstreicht damit ihre Beschäftigung mit dem Wesen der Zeit als Thema und als Element in der Ausstellung selbst. Zwei Vitrinen präsentieren darüber hinaus eine Reihe von Werken und Dokumenten, die mit den Monthly Evaluations in Verbindung stehen. So wird etwa eine Collage aus der Serie Untitled (2011) (Assemblagen aus einzelnen Farbkarten der mit lyrischen Namen bezeichneten Farbnuancen der Firma Benjamin Moore, die sie zu „ready-made-poetry“ zusammensetzte) in Dialog mit einigen Schemata gesetzt, die die Entwicklung und den Arbeitsprozess dessen, was später zur Serie Monthly Evaluations werden sollte, nachvollziehbar machen und Nemeș’ Leidenschaft für die Umsetzung ihrer alltäglichen Rituale und Regelwerke sowie für die expressiven Möglichkeiten von Farben offenbaren. Eine zweite Vitrine gibt Einblicke in das Ioana Nemeș Archiv und präsentiert wiederum eine Sammlung emblematischer Fotografien aus dem The Wall Project (2001-2004), der ersten Serie von Selbstbewertungsarbeiten, die sie in ihrer kleinen Familienwohnung in Bukarest entwickelt, realisiert und ausgewertet hat. Ursprünglich in Form eines Storyboards organisiert und in mehrere Hauptabschnitte unterteilt, ermöglichte ihr das Projekt, die Entwicklung ihrer persönlichen und beruflichen Situation und ihrer Sehnsüchte nachzuvollziehen. In der Nähe ist eine Audiodatei von Nemeș’ erstem Selbstinterview aus dem Jahr 2004 installiert, in dem die Künstlerin die Doppelrolle der Interviewerin/Interviewten einnahm. Das Gespräch bietet Einblicke in verschiedene Themenbereiche wie die Entstehung von The Wall Project, in das Regelwerk und die Untersuchungsfelder, die sich Nemeș selbst gesetzt hat, sowie in die Ungewissheiten der sich verändernden künstlerischen und wirtschaftlichen Situation Rumäniens in einer Phase der Transformation in der Europäischen Union. Weitere Selbstinterviews (2005-2010), die Nemeș im Laufe der Jahre schriftlich festgehalten hat und die als Zweiergespräche mit fiktiven Kritiker*innen getarnt sind, bilden die Grundlage einer für die Ausstellung produzierten Publikation, die vor Ort gelesen werden kann. Sie erzählen unter anderem von einer Reihe ethischer und politischer Standpunkte oder Haltungen zum Kulturbetrieb und zur Kunstwelt. 

Aus diesen vielschichtigen alltäglichen Bewertungen entstand ein Archiv gelebter Erfahrungen, ein Rahmen, innerhalb dessen Nemeș arbeiten konnte, indem sie bestimmte Tage auswählte und ihnen eine Form als Wandmalerei, Objekt oder Skulptur gab: Sie fügte sie zu elliptisch zusammenhängenden Kompositionen und möglichen Erzählungen zusammen, untersuchte die Verflechtungen zwischen persönlichen und historischen psychologischen Rhythmen und transformierte abstrakte Vorstellungen von Zeit in erfahrbare und affektive Formen. 

Kuratiert mit Kilobase Bucharest und Viktor Neumann

Ioana Nemeș. All the Future Ahead entsteht in Kooperation mit tranzit.at und mit der Unterstützung des Rumänischen Kulturinstituts, Wien, add, Bukarest und Benjamin Moore. Mit besonderem Dank an Serioja Bocsok, Michael Koch, Janina Weißenberger, Secession Wien, sowie Maria Farcaș und Erika Olea for ihr Mitarbeit und Unterstützung.

Die Ausstellung bei Kevin Space is Teil einer Reihe von Ausstellungen, die verschiedene Aspekte der künstlerischen Praxis von Ioana Nemeș vorstellt und miteinander in Beziehung setzt: Times Colliding bei Between Bridges, Berlin (September–November 2023), Art Encounters Foundation,Timișoara (November 2023–März 2024) sowie die kommende Überblicksausstellung im MNAC – National Museum of Contemporary Art, Bukarest (2024–2025).

Ioana Nemeș, Untitled [The Lost Days] series, 2010/11. 14.01.2004, 26.08.2006, 30.10.2007. Window plots, dimensions variable. Photo: Maximilian Anelli-Monti